Es dauert ein paar Minuten länger, aber das ist mir egal: Ich fahre gerne Straßenbahn. Jedenfalls lieber als S-Bahn oder Bus. Ich sitze dann ganz hinten und starre aus dem Rückfenster auf das surreale Bild der sich entfernenden Schienen. Das gute Gefühl, etwas hinter mir zu lassen, vorwärts zu kommen. Raus aus dem täglichen Dreck, weg von mir selbst. Ganz ohne Schuldgefühle, die ich ansonsten bei jeder sich bietenden Gelegenheit habe: Wenn ich nicht bei der Arbeit bin, habe ich Schuldgefühle, weil ich denke, ich müsste jetzt eigentlich arbeiten. Wenn ich im Büro sitze, denke ich, ich müsste mehr mit der Familie machen. Wenn ich arbeite, denke ich, ich müsste aber eigentlich noch was anderes fertig machen. Wenn ich Kaffee trinke, sammle ich Schuld gegenüber meinem Herzen, wenn nicht, müsste ich wacher sein, um mehr zu schaffen.Wenn jemand Papier auf die Straße wirft, habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich es nicht aufhebe. Habe ich ein altes Hemd an, habe ich Schuld an der Konjunkturkrise. Überhaupt liegt die ganze Welt auf meinen Schultern, sie neigen sich wie unter einer großen Last gefährlich der Straße entgegen. Das kann man auch auf Kinderfotos von mir schon sehen. Es ist ein bisschen verrückt, aber ich glaube, alle Anspannung, alle Krankheitssymptome lassen sich gut auf meine Schuldgefühle zurückführen. Es wäre schöner ohne das. Wie also daran arbeiten?
Zunächst wäre dazu ein guter Zugang zu mir selbst nötig. Der ist in den letzten Jahren irgendwo zwischen schlechtem Schlaf und stetigem Stress verloren gegangen. Da hat es etwas geholfen, zwei Tage mal mit Grippe (und Schuldgefühlen, denn ich hätte arbeiten und mein Kind betreuen müssen) total flach zu liegen, und jeden Knochen zu spüren. Da hilft es auch, wenn das Herz so eng wird, dass man kurz vor einem Infarkt steht - denn spätestens da wird klar, dass etwas passieren muss. Ständige Knieschmerzen helfen auch, denn steter Tropfen dringt irgendwann durch. Ich bin also dran, etwas zu tun, und ich glaube, dieses Jahr kann das was werden. Dazu gehört auch, Dinge an mir abzuschütteln, die ich nicht selber bin, die ich nur angenommen habe, warum auch immer. Weil ich es cool fand, weil es bequem war, weil es unbequem war, whatever. Unter dem ganzen draufgesetzten Quark muss ich mich finden, und mich von den Fallen und Fesseln befreien, die wie Blei an mir hängen. Gar nicht so leicht, aber dieses Jahr wird es werden müssen. Die Analyse läuft. Was zählt, ist der Durchschnitt. Ich brauche dazu Selbstbewusstsein und Mut. Die Tram hilft dabei.
2 Kommentare:
sie könne wohl kaum ahnen, wieviel ich davon kenne und ich wünsche ihnen von herzen erfolg beim abschütteln dieser ganzen belastenden grütze!
Dazu fällt mir spontan der Film Lammbock ein, weil einer der Protagonisten darin auch dieses "Eigentlich muss ich immer das tun, was ich gerade nicht tun kann"-Syndrom hat.
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